Erzählt und geschrieben von Julie Leube (NIFA plus-Beraterin der AGDW in Stuttgart):
Herr G. ist bereits Buchhalter mit einem Bachelor-Abschluss im Fach Wirtschaftswissenschaften und hat fünf Jahre Berufserfahrung im Finanzverwaltungsbereich, als er im Herbst 2021 mit seiner Frau und seinem 4-jährigen Sohn aus Bergkarabach in Armenien nach Deutschland kommt.
Er stellt mit seiner Familie einen Asylantrag und möchte sich sofort um seine beruflichen Möglichkeiten kümmern. Dies ist zu dem Zeitpunkt nicht immer einfach. Corona bedingt – Sprachkurse haben lange nicht stattgefunden – sind Sprachkursplätze schwer zu finden. Mit viel Eigeninitiative kann Herr G. schließlich einen B1-Kurs bei der VHS in Stuttgart beginnen – die Vorkenntnisse dafür hatte er sich selbst angeeignet.
Über seine Sozialarbeiterin kommt er im Oktober 2022 zum Projekt NIFA plus. Zu dem Zeitpunkt besucht er bereits einen B2-Kurs. In der Beratung sind daher die Möglichkeiten der sprachlichen Weiterqualifikation ein wichtiges Thema – ein Muss für den kaufmännischen Bereich – und wie die aus Armenien mitgebrachten Zeugnisse in Deutschland verwendet werden können. Daneben spielt die aufenthaltsrechtliche Beratung eine wichtige Rolle.
Durch die Unterstützung von NIFA plus kann Herr G. seine Zeugnisse anerkennen lassen und einen C1-Kurs an der Universität Stuttgart besuchen. In der Zeit schreibt er mehr als hundert Bewerbungen und arbeitet auf Minijob-Basis bei einer Stuttgarter Firma im Sicherheitsdienst, u.a. um durch die Kontakte bei der Arbeit seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Ein Ergebnis seiner unermüdlichen Bemühungen: Als die Firma von seiner Qualifikation erfährt und dass er auf der Suche nach einer Arbeit oder Ausbildung ist, bietet sie ihm einen Ausbildungsplatz als kaufmännischer Fachangestellter an. Dass er für die Firma „VDW Sicherheit“, ein mittelständisches Unternehmen, der erste Auszubildende sein wird, soll kein Hindernis sein. Herr G. hat sie als Beschäftigter durch seine positiven Eigenschaften bereits überzeugen können:
„Als wir Herr G. kennen gelernt haben, war sein Deutsch sehr gebrochen, jedoch hat man von Anfang an spüren können, dass er arbeiten will und dass er unbedingt Deutsch lernen möchte. Mit seiner Disziplin und seinen Erfahrungen, die er in Armenien erlernt hat, ist er für uns einer der wertvollsten Mitarbeiter geworden.“
Schnell zeigen sich die Vorteile von Herr G.s beruflichen Vorkenntnissen: Ihm werden mittlerweile verantwortungsvolle Aufgaben übertragen, teils kann er Fachkenntnisse aus seinem Heimatland mit einbringen. Die Ausbildung spielt für ihn u.a. auch für das Erlernen der gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie den Erwerb von Sprach-, Kultur und Gesellschaftskenntnissen eine wichtige Rolle. Gerade letzteres spielt im Marketing eine wichtige Rolle, wie Herr G. findet.
Mittlerweile stellt sich die Frage, ob er seine Ausbildung von drei auf zwei Jahre verkürzen kann. Für die zuständige Kammer wäre das kein Problem. Die Herausforderung besteht für Herr G. vielmehr darin, sich in Eigenarbeit die Inhalte des dritten Lehrjahrs schon während des zweiten Lehrjahrs anzueignen – neben der Familienverantwortung: Herr G. ist zum zweiten Mal Vater geworden und auch seine Frau, die ebenfalls Teilnehmerin beim Projekt NIFA plus ist, möchte bald beruflich durchstarten: Sie hat für ihre pädagogischen Abschlüsse (BA und MA) mit Unterstützung des Projektes bereits eine Teilanerkennung erhalten und möchte nach Abschluss einer Nachqualifizierung weiter im pädagogischen Bereich arbeiten.
Trotz seiner beruflichen Erfolge stellt die bisher unveränderte aufenthaltsrechtliche Situation – die Familie hat bisher keinen Bescheid über ihren Asylantrag erhalten – eine Belastung für Herr G. dar. Zwar kann er aufgrund seiner Ausbildung oder, sollte das Asylverfahren sich noch weiter in die Länge ziehen und in eine Ablehnung münden, aufgrund seiner qualifizierten Beschäftigung nach Abschluss der Ausbildung einen Aufenthalt für sich und seine Familie erhalten. Die Zeit des Wartens ist dennoch mit einem Gefühl der Unsicherheit verbunden.
Damit zu gegebener Zeit ein möglichst reibungsloser Übergang von der Ausbildung in Arbeit erfolgen und Herr G. im Falle eines negativ verlaufenden Asylverfahrens Unterstützung bei der Beantragung eines seiner Qualifikation entsprechenden Aufenthaltstitels erhält, wird er weiter vom Projekt NIFA plus begleitet.